Warum Agile Methoden agiles arbeiten erschweren

Agiles Arbeiten: Was haben wir nicht alles in diese Wörter hineinprojiziert. Endlich würden wir so wertschöpfen, wie es unsere Kunden wollen und wie es der Veranlagung unserer Teams entspricht! Wir würden Produkte und Services gestalten, die quasi nur noch aus Mehrwert bestehen! Wir würden die Fesseln aus irrelevanten Reportings, Kennzahlen und Jour-fixes abwerfen, die irgendein Vorgänger mal eingestellt hatte. Ja, wir würden Agil werden, Agil mit großem A: Selbstbestimmte, vollwertige Menschen, die ihr ganzes Wesen in die Wertschöpfung gießen. Menschen, die einander als vollwertige Partner begegnen und sich und ihre Umwelt bereichern. Es würde alles wunderbar werden. Agile, Baby!

So wundervoll der Gedanke hinter Agile ist – den ich persönlich sehr schätze – so schwierig ist die praktische Umsetzung geraten: Heute dominieren vielerorts formalisierte „Agile Methoden“ bzw. Praktiken, die unreflektiert kopiert und übernommen werden. Hinter dem Problem steht ein Missverständnis darüber, was Agile eigentlich ist – und ein großes Geschäftsmodell.

Von „Agile“ zu „Agile Methoden“

Insbesondere in Deutschland wurde „Agil“ sprachlich schnell mit „Agile Methoden“ gleichgesetzt. Mittlerweile ist eine ganze Industrie entstanden, die solche Methoden produziert – um sie häufig mittels Command and Control in Unternehmen einzuführen. Dass dieses Vorgehen die ursprüngliche Intention ad absurdum führt, hätte einem früher auffallen können: Im offiziellen Scrum-Guide, der eines der beliebtesten Frameworks aus dem Agile-Universum beschreibt, steht es schwarz auf weiß.

„Es ist zwar möglich, nur Teile von Scrum einzusetzen – das Ergebnis ist dann aber nicht Scrum.“ -Scrum Guide

Die Ironie schmerzt: Agile Methoden verlangen vom Anwender dessen Unterwerfung unter ein striktes und statisches Regelwerk. Wehe dem, der die Hybris besitzt, Anpassung von der Agilität selbst zu verlangen!

Agile Unternehmen gibt es nicht

Ich habe zahllose Veranstaltungen, Tagungen und Webinare rund um agiles Arbeiten und agile Methoden besucht. Alle, die ich gehört habe, scheinen sich einig: Ein konsequent agiles Unternehmen gibt es nicht – zumindest nicht in Deutschland. Ein sehr erfahrener Speaker und Coach sagte mir einmal, das Maximum, was er je gesehen hätte wären 80 % Agilität gewesen – und er kenne auch niemanden, der anderes erlebt hätte.

Das ist das dunkle Geheimnis der Agilität: Als Produkt funktionieren agile Methoden nicht. Zumindest nicht so, wie es uns die Autoren, Speaker und sonstigen For-Profit-Anbieter weismachen wollen: Wenn die Einführung scheitert, dann liegt das angeblich am nicht-vorhandenen „Mindset“ oder an Strukturen, die sich mit Agile nicht vertragen. Ich möchte zurückrufen: „Merkt Ihr denn nicht, was das für eine Bankrotterklärung ist? Euer Produkt kann vom Anwender nicht an seine tatsächliche Realität und individuellen Bedürfnisse angepasst werden – und Ihr macht Eure Kunden für das Scheitern verantwortlich?“ Die Agile-Industrie wäre selbst ein perfekter Patient für die eigene Medizin – verweigert sich ihr aber.

 

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Eine Geisteshaltung ist schwer zu verkaufen – mit schicken Prozess-Skizzen ist das einfacher.

Das heißt übrigens nicht, dass das „Mindset“-Argument falsch wäre. Ich glaube selbst, dass Unternehmensinnovation vielerorts daran scheitert, dass sie nicht wirklich gewollt ist: Viele entsprechende Projekte wirken wie ein Feigenblatt, um angesichts einer aktuellen Mode ein gutes Bild bei Bewerbern und Geschäftspartnern abzugeben. Dieses Phänomen ist real und das Argument gültig. Aber: Das zu wissen und trotzdem Methodensammlungen zu verkaufen, die zum Scheitern verurteilt sind, ist aus meiner Sicht Heuchelei.

Theorie schlägt Praxis: Der Erfolg der Agile-Gurus

„Ich möchte besser arbeiten“, ruft der Angestellte. „Lies diese Bücher, besuche diese Seminare und verwende diese Ressourcen“, antwortet die Agile-Industrie. Sie erklärt uns, dass das Entschlacken der Arbeitswelt ein sehr komplexes Vorhaben sei, das nur mit Experten-Beratung gelingen könne. Wieder beweist sich Agile als Produkt, das den eigenen Maßstäben nicht gerecht wird.

Den Erfindern und Paten der Agile-Industrie schadet das nicht. Im Gegenteil – agile Methoden sind zu einem Publikumssport geworden: Einer paradoxen Welt, in der „Agile-Gurus“ als Theoretiker berühmter und gefragter sind, als Impulsgeber, die tatsächlich in der Arbeitswelt tätig sind. Jede neue Publikation zitiert die vorausgegangenen, bezieht sich auf die selben utopischen Erfolgsgeschichten („Morningstar! Buurtzorg! Heiligenfeld!”) und macht heiß auf das nächste Framework. Auf das neueste Buch. Oder auf die x-te Auflage der irgendwie immergleichen Experten-Keynote.

 

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Um viele Agile-Gurus ist ein regelrechter Star-Kult entstanden.

Viele zweifeln mittlerweile an der Relevanz dieser Geschichten für ihren eigenen Kontext: Wenn die starre Einhaltung von „Best Practices“ als problematisch gilt, sollte man vielleicht auch kritisch und reflektiert an agile Best Practices herangehen. Wer aber selbst Lösungen entwickelt, die an der individuellen Situation ausgerichtet sind, sieht sich Häme ausgesetzt: Das sei ja „nicht Scrum“ oder entspreche nicht der ursprünglichen Bedeutung des „Agile Manifesto.“ Dieses Manifest wurde übrigens 2001 aufgesetzt, sechs Jahre vor der Premiere des ersten iPhones: Die Experten, die es hochhalten wie ein Evangelium, würden Sie (zurecht) dafür rügen, wenn Sie neue Ideen mit Verweis auf ein 17 Jahre altes Dogma abtun.

Agile erzeugt Agile: Methoden und Frameworks als Umsatzmotor

Das Versprechen befeuert die Industrie: Konsumiere Agile und Du darfst Dich selbst zur Agile-Elite zählen. Ein Beispiel: Management 3.0 ist ein gerade hierzulande beliebtes Management-Modell, das zu den agilen Methoden/Frameworks zählt. Es ist möglich, offizieller „Management 3.0“-Coach zu werden, ohne einen einzigen Workshop durchzuführen oder auch nur zu besuchen. Die so erworbene Lizenz ist für den Coach kostenpflichtig und wird von ihm durch das Abhalten eigener, kostenpflichtiger Seminare refinanziert.
In dieser Hinsicht ist Agile als Produkt übrigens sehr gelungen gestaltet: Viele Frameworks beinhalten einen solchen „Growth Hack“ bzw. Wachstumsmotor, der jeden Anwender und Coach zum Lead-Generator und Umsatztreiber macht. Davon profitiert aber vor allem die Organisation hinter dem Framework.

Die Agile-Industrie verkauft uns nicht das agile Arbeiten: Sie verkauft uns die Idee vom agilen Arbeiten; die Vorstellung von einer Welt, in der alles ganz anders ist. Es bleibt aber bei einem kurzfristigen Hochgefühl, denn den Weg in diese Welt zeigt und ebnet Agile nicht. Auch den Frust, wenn wir nach einem aufputschenden Workshop wieder in die Realität unseres Erwerbslebens zurückkehren, nimmt sie uns nicht: Das Handout/Worksheet/Canvas, das gestern noch der Wegweiser in ein besseres Leben war, setzt bald schon Staub in der Ablage an – und wird zum Mahnmal dafür, dass wir schon wieder daran gescheitert sind, unsere Realität zu verändern.

Die Agile-Automaten: Technik statt Menschlichkeit

Das Framework gilt heute oft mehr als der Mensch, der es anwendet; entsprechend gefragt sind Zertifikate und Lizenzen. Das formalisiert und technisiert Agile immer weiter – der Anwender/Umsetzer gerät dabei zur Nebensache. Dass das problematisch ist, kennen wir aus anderen Bereichen:

Ein ehemaliger Vorgesetzter von mir sagte einmal über den Zustand unseres Vertriebs: “Wir haben über Jahre den Fehler gemacht, unsere Leute zu ‘Vertriebsautomaten’ zu erziehen. Die begegnen ihren Kunden mit ausgefeilten Fragetechniken und Argumenten. All das ist aber überflüssig, wenn man sich einfach öffnet und darauf einlässt, ein ehrliches Gespräch zwischen Menschen zu führen.” Ich habe selbst lange so gearbeitet und kenne viele Kollegen, denen es genau so geht. Bis heute arbeite ich daran, diese technisierten Verhaltensmuster wieder zu verlernen und stattdessen einen kundenzentrierten Vertrieb zu gestalten. Ich glaube, wir haben auch eine Armee aus “Agile-Automaten” herangezogen: Berater und Coaches, die ihren Ziel-Organisationen genau so generisch und unpersönlich zu Leibe rücken, wie wir früher im Vertrieb.

 

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Glücklich wie im Stock-Photo: Wenn aus Menschen Agile-Automaten werden.

Agile ist zum Wasserfall-Modell geworden – ein statisches System aus Regelwerken und Methoden, an die sich die Arbeitswelt anpassen möge. Gestaltet wird es vorrangig von Menschen, die selbst nicht mehr Teil dieser Arbeitswelt sind, sondern sich als Autoren und Redner verdingen. Das erinnert ein wenig an Silicon-Valley-Milliardäre, die dank des Internets reich geworden sind, ihre Kinder aber davon fern halten – und es sollte uns ebenso zu denken geben.

Fazit: Echte Menschen sind agiler als „agile Methoden“

Unsere Messaging-Software bezeichnen wir als technologie-agnostisch: Wir meinen damit, dass wir prinzipiell jede Integration/Erweiterung ermöglichen, die im jeweiligen Kontext unserer Kunden sinnvoll ist.

Vielleicht kann man unsere Arbeitsweisen dazu passend als ideologie-agnostisch beschreiben: Wir integrieren die Methoden, die uns in unserem Szenario helfen. Manchmal gelten sie als „agil“ – und ja, teilweise setzen auch wir Scrum ein. Meistens haben diese Methoden aber keine coolen, werbewirksamen Namen, oder wir kennen sie nicht. Oft sind sie so einfach und trivial, dass man sich schämen würde, für das Wissen darüber Geld zu verlangen. Aber sie funktionieren, weil sie aus einer Überzeugung entstehen, die jedes Framework und Fachbuch zweitrangig macht: Die Überzeugung, dass wir alle mündige Erwachsene sind und uns gegenseitig als solche behandeln wollen. Dieses Mindset ist für mich Gold wert – und unverkäuflich.

 
Eleftherios Hatziioannou

Geschrieben von Eleftherios Hatziioannou

Eleftherios Hatziioannou beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Einsatz von digitalen Medien im geschäftlichen Kontext. Er begleitete renommierte Unternehmen und Marken – wie z.B. Daimler und s.Oliver – auf ihrem Weg zum digitalen Vorreiter Ihrer Branche. Auch mit digitalen Geschäftsmodellen und Startups kennt er sich bestens aus. So leistete er als Mitgründer von smoope hierzulande Pionierarbeit bei der Etablierung von Messaging als modernes und sicheres Kommunikationsmedium mit und in Unternehmen, bevor er als Messaging-Spezialist zu Serviceware kam.


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